Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794

Friedrich der Große hatte 1780 eine umfassende Revision des gesamten preußischen Rechts in Auftrag gegeben. Nach dem Willen des Königs sollte das bestehende Recht (vornehmlich das römische und gemeine Recht) gesammelt und bereinigt werden, so daß „ein subsidiarisches Gesetz-Buch, zu welchem der Richter beym Mangel der Provinzial-Gesetze recurriren kann", erarbeitet werden sollte (Kabinettsordre v. 14.4.1780). Die Provinzen wurden aufgefordert, ihr Recht in eigenen Provinzialgesetzbüchern zu verankern (§§ 1 ff. Einl. ALR).

Schlagwörter:
Friedrich II.
Subsidiarität
Kodifikation
Menschenrechte
„Janusköpfigkeit“
Rechtsstaat
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Zeittafel: (Übersicht als Zeitleiste)
1763–1784 J. H. C. Graf von Carmer (1721–1801) und Karl Gottlieb Suarez (1746–1798): Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten
1781 Corpus juris Fridericianum: Prozeßordnung
1784 Erster Entwurfs des Preußischen Allgemeinen Landrechts zur öffentlichen Kritik und Änderungsanträgen
1789 Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in Frankreich
1794 Inkrafttreten des »Allgemeinen Landrechts« für die preußischen Staaten (ALR)
1806–1807 Zusammenbruch des preußischen Staates (7./9.7. 1807)
1807–1813 Königreich Westfalen
1807–1811 Staats- und Verwaltungsreformen in den Rheinbundstaaten
1807–1814 Preussische Reformen durch den Reichsfreiherrn Karl vom und zum Stein (1757–1831), Karl August Freiherr (1814 Fürst) v. Hardenberg (1750–1822), Gerhard Johann David v. Scharnhorst (1755–1813) und August Neithardt v. Gneisenau (1760–1831)
1877 Reichsjustizgesetze: GVG, ZPO, StPO, KO

Das ALR als nachrangiges Recht

Friedrich der Große hatte 1780 eine umfassende Revision des gesamten preußischen Rechts in Auftrag gegeben. Nach dem Willen des Königs sollte das bestehende Recht (vornehmlich das römische und gemeine Recht) gesammelt und bereinigt werden, so daß „ein subsidiarisches Gesetz-Buch, zu welchem der Richter beym Mangel der Provinzial-Gesetze recurriren kann“, erarbeitet werden sollte (Kabinettsordre v. 14.4.1780). Die Provinzen wurden aufgefordert, ihr Recht in eigenen Provinzialgesetzbüchern zu verankern (§§ 1 ff. Einl. ALR). Davon hat lediglich die Provinz Ostpreußen im Jahr 1801 Gebrauch gemacht, so daß trotz des Subsidiaritätsgebots das ALR in der Rechtspraxis als geltendes Gesetz angewandt wurde. Der Gesetzgebungsauftrag wurde durch den Grafen v. Carmer und seine beiden Mitarbeiter Suarez und Klein durchgeführt.

Inhalte

Es wurden das Privatrecht, das Strafrecht und das öffentliche Recht neu geregelt, nicht aber das Verfahrensrecht. Das Zivilprozeßrecht war bereits durch die allgemeine Prozeßordnung von 1781 neu gefaßt worden. Das Strafverfahrensrecht wurde durch eine Kriminalordnung von 1805 geregelt. Das ALR ist keineswegs nur eine Sammlung bestehenden Rechts, sondern in weiten Teilen eine Neuschöpfung. Die Verfasser wollten in der Tradition gewisser Vorstellungen der Aufklärung eine umfassende und vollständige Kodifikation schaffen, die keiner Änderung und Ergänzung in der Zukunft bedürfen würde. Daher wird ein Verbot der Berücksichtigung von älteren Gerichtsentscheidungen oder von Meinungen aus der Wissenschaft (§ 6 Einl. ALR) und ein Verbot der Auslegung (§§ 45 ff. Einl. ALR) erlassen. Dennoch ist das ALR neben dem österreichischen ABGB und dem Strafgesetzbuch Leopolds von der Toskana ein bedeutendes Beispiel für eine Kodifikation der Aufklärung. Diesen Ruf verdankt es vor allen Dingen seiner Einleitung, in der zum ersten Mal moderne Prinzipien der Gesetzgebung wie z.B. Geltung vom Zeitpunkt der Publikation an (§§ 10 f. Einl. ALR), Rückwirkungsverbot (§ 14 Einl. ALR), Geltungsdauer von Gesetzen (§ 59 Einl. ALR) verankert werden. Es werden allgemeine Rechte des Menschen formuliert, die allerdings durch den Verweis auf die ständischen Rechte wieder eingeschränkt werden (§ 82 Einl. ALR). Der Rechtsgrundsatz der Grenzen der eigenen Freiheit an der Freiheit anderer – bis heute ein Verfassungsprinzip – wird entsprechend den Lehren des Gesellschaftsvertrags und Kants Metaphysik der Sitten (Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § C) benannt (§ 83 Einl. ALR). Es werden Rechte des Ungeborenen (§§ 10 ff. I 1 ALR) festgesetzt. Es wird ein „Hauptendzweck“ des Staates festgelegt, nämlich das Gemeinwohl, äußere und innere Sicherheit (§ 73 Einl., § 1 II 13 ALR). Dem Bürger, der im Interesse des Gemeinwohls seine Gesundheit oder sein eigenes Gut opfert, wird ein Ersatzanspruch gegen den Staat zugestanden (§ 75 Einl. ALR); dieser sog. Aufopferungsanspruch wird bis heute aus der genannten Vorschrift des ALR hergeleitet. Auf der anderen Seite aber werden die unterschiedlichen Rechte der Stände festgeschrieben (Bauern: §§ 1 ff. II 7 ALR; Bürger: §§ 1 ff. II 8 ALR; Adel: §§ 1 ff. II 9 ALR). Die absoluten Rechte des Monarchen bleiben uneingeschränkt erhalten (§§ 1 ff. II 13 ALR).

Die umfassende Regelung des gesamten Rechts Preußens war mit nahezu 20 000 Paragraphen unhandlich. Politisch war neben der Rechtsvereinheitlichung der weit ausgedehnten, aber verstreut liegenden Bestandteile des preußischen Staates die Vereinheitlichung der Lebensbedingungen gewollt. Die Untertanen sollten sich in erster Linie als Preußen und dann erst als Schlesier oder Ostfriesen fühlen.

Widerstand gegen das ALR

Friedrich der Große hat das Ende der Arbeiten am ALR nicht mehr erlebt. Als der vollständige Entwurf, der damals noch „Allgemeines Gesetzbuch für die preußischen Staaten" hieß, seinem Nachfolger vorgelegt wurde, stieß er auf heftigen Widerspruch des Adels. Friedrich August Ludwig von der Marwitz nannte es verachtungsvoll einen „Gleichheitskodex“. Man warf dem Entwurf vor, daß er Unruhe unter der Landbevölkerung gestiftet habe. Der Entwurf schien den Ideen der französischen Revolution von 1789 allzu nahe zu stehen. Der König hat durch Kabinettsordre vom 18. April 1792 das geplante Inkrafttreten zum 1. Juni 1792 suspendiert. Das Vorhaben schien gescheitert. Suarez setzte die Arbeit am Gesetzentwurf fort. Inzwischen hatte die Justiz aber von dem Entwurf Kenntnis genommen und begonnen, ihn schon vor dem Inkrafttreten anzuwenden. Als 1793 Preußen durch die zweite Teilung Polens einen erheblichen Gebietszuwachs erfuhr, stellte sich die Frage, nach welchem Recht man dort handeln sollte. Der neue Gesetzentwurf bot sich an. Aber er erfuhr eine Überarbeitung nach den Wünschen seiner Gegner. Nach der Schlußrevision war aus dem AGB das ALR geworden, das 1794 in Kraft trat.

Das kurze Schicksal des ALR

Die „janusköpfige“ Kodifikation verlor bald ihre Bedeutung. Abgesehen davon, daß Friedrich Wilhelm II. und Friedrich Wilhelm III. Abweichungen und Neuregelungen anordneten, setzte der Zusammenbruch des friderizianischen Preußens nach dem verlorenen Kampf gegen Napoleon die ständische Organisation des Staates außer Kraft. Die Modernisierung durch die Reformen von Stein, Hardenberg, Scharnhorst und Gneisenau ließ zahlreiche Vorschriften des ALR ins Leere laufen. Immerhin galt der zivilrechtliche Teil im Wesentlichen bis zur Einführung des BGB. Berühmt geworden ist der Polizeibegriff in ALR § 10 II 17, der sich bis zur Einführung des § 14 Preuß. PVG im Jahr 1932 gehalten hat. Der berühmte Begründer der historischen Rechtsschule und zeitweilige preußische Justizminister Friedrich Carl v. Savigny hat das Gesetz als „Sudeley“ bezeichnet.

Der Geltungsbereich

Nur in den nach den polnischen Teilungen (1793 bzw. 1795) neu erworbenen Gebieten des sog. Südpreußens wurde das ALR als unmittelbar geltendes Recht eingeführt. Nach 1807 wurden alle Gebiete Preußens westlich der Elbe zum Königreich Westfalen geschlagen. Dort wurde das neue französisches Recht eingeführt. Als diese Gebiete nach den Pariser Friedensschlüssen (1814, 1815) und dem Wiener Kongreß (1815) an Preußen zurückfielen, hat man das ALR nicht überall wieder eingeführt, sondern es beim französischen Recht belassen, mit der Ausnahme des Herzogtums Westfalen. Dort wurde das ALR erneut etabliert. Das Gleiche gilt für das Fürstentum Ansbach-Bayreuth. In den linksrheinischen und im bergischen Gebiet blieb das französische Recht bestehen, aber nicht aus Einsicht in seine überlegene Qualität. Vielmehr schlug die Wiedereinführung des ALR wegen der persönlichen Differenzen zwischen dem Staatskanzler v. Hardenberg und dem Justizminister v. Kircheisen fehl. Im Übrigen setzte sich in den rechtsrheinischen Gebieten, wo das französische Recht als Besatzungsrecht besonders verhaßt war, das ALR als unmittelbar geltendes Recht durch.

Trotz des ALR erhielt sich das gemeine Recht in den Landesteilen Neuvorpommern und Rügen und im rechtsrheinischen Teil des Regierungsbezirks Koblenz. Im Zuge der Romanisierung und Systematisierung des gemeinen Rechts (Savigny) vertiefte sich der Graben zum ALR, das einer früheren Zeit angehörte. Seine erneute Einführung bot sich dort nicht mehr an. In den nach 1864 bzw. 1866 zu Preußen gekommenen Gebieten (Herzogtum Schleswig-Holstein und Königreich Hannover) bot sich die Einführung des ALR ohnehin nicht mehr an; es blieb bei der Geltung des gemeinen Rechts. Das Fürstentum Ostfriesland war während der napoleonischen Zeit als Departement in das französische Kaiserreich eingegliedert. Hier wurde nach der napoleonischen Zeit das ALR ebenso wie im ehemaligen Bistum Münster, der Grafschaft Mark, den rechts-rheinischen Teilen des Herzogtums Kleve als unmittelbar geltendes Recht (wieder) eingeführt. Altmark, Herzogtum Magdeburg, das Eichsfeld, Fürstentum Minden, Grafschaft Ravensberg sowie Fürstentum Paderborn besaßen von Anfang an das ALR als unmittelbar geltendes Recht.

Erst die Reichsjustizgesetze von 1877 schufen wenigstens in Gerichtsorganisation und Verfahren sowie im Strafrecht einheitliches Recht.

Literatur

  • Bornhak, Conrad, Preußische Staats- und Rechtsgeschichte, Berlin 1903, S. 540;
  • Hattenhauer, Hans (Hrsg.), Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, 2. Aufl., Neuwied/Kriftel/Berlin 1996;
  • Schwennicke, Andreas, Die Entstehung der Einleitung des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, Frankfurt a. M. 1993.

Jörg Wolff