Die Tyberiade des Bartolus de Saxoferrato

Einer jeden historischen und geographischen Betrachtung eines rechtlichen Sachverhalts liegt die Anwendung exakter Methoden zur Betrachtung eines Teils der Erdoberfläche zugrunde.

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1314–1357 Bartolus de Saxoferrato

1. Zur Einführung

Einer jeden historischen und geographischen Betrachtung eines rechtlichen Sachverhalts liegt die Anwendung exakter Methoden zur Betrachtung eines Teils der Erdoberfläche zugrunde. Es gibt ein frühes Beispiel für die Verbindung der geometrischen Methode mit Rechtssachverhalten, das von Bartolus de Saxoferrato (1313–1357) in seiner Schrift »Tractatus de fluminibus seu Tyberiadis« (1355) stammt. 1339 wurde er Professor in Pisa. Bartolus war seit 1343 bis zu seinem Tode Professor für jus civile an der neu gegründeten (1308) Universität Perugia. Bartolus' Bedeutung liegt in der Einführung einer freieren Auslegung des corpus juris civilis. Er hat die Suche nach der ratio legis bzw. mens legislatoris eingeführt.

2. Renaissance in Italien

Es ist kaum ein Zufall, dass Saxoferrato in dieser Zeit auf seine Idee kam. Das 14. Jh. war ein Zeitalter der Erneuerungen. In Italien erreichte die Gründung neuer Universitäten einen Höhepunkt. In der Musik entstand die ars nova, der Kontrapunkt. Die Dichter und Gelehrten Boccaccio (1313–1375), Dante (1265–1321) und Petrarca (1304–1374) begründeten den Frühhumanismus und wurden weltberühmt. Der Horizont der Gelehrten erweiterte sich zu einer universellen Betrachtungsweise. Im Zeitalter der beginnenden Renaissance wandelte sich auch die Bilddarstellung. Man wandte sich nicht nur der Darstellung der Antike zu, sondern gab den Bildraum geometrisch exakt mit einer Zentralperspektive wieder. Bartolus lebte in verschiedenen Orten (Perugia, Bologna, Todi und Pisa), die alle nicht sehr weit weg von Florenz, einem der Zentren der Renaissance, lagen. Er war als vielgereister, weltläufiger Gelehrter mit den neuen Ideen vertraut gewesen und er hat seinerseits zum Siegeszug der Renaissance beigetragen.

3. Der Tractatus

Es gab am Ende des Mittelalters zwei Sammlungen der Consilien von Bartolus. Ca. sieben Ausgaben existieren in der Vatikanbibliothek. Zum Teil handelt es sich um Wiegendrucke. Wieviel handschriftliche Exemplare noch vorhanden sind, ist unbekannt. Die Texte sind inhaltlich verschieden. Wir beziehen uns auf eine gedruckte Ausgabe aus Turin 1964, die auf einer Ausgabe aus dem Jahr 1576 beruht. Bartolus berichtet in diesem Tractatus, daß er während eines Ferienaufenthaltes in seinem Landhaus in der Nähe von Perugia oberhalb des Flusses Tiber beim Blick auf die sich häufig verändernden Flußbögen auf die Frage gekommen sei, welche rechtlichen Folgen für die anliegenden Grundstückseigentümer die Inseln und Anschwemmungen hatten. Für die Klärung der daraus entstehenden Streitfragen hatte er den Einfall, die Geometrie zu Hilfe zu nehmen und die Veränderungen mit Meßlatte, Zirkel und einem Winkelmeßgerät zu vermessen. So machte er den abstrakten Vorgang des Eigentumserwerbs oder -verlustes mit Hilfe der Geometrie sichtbar.

Die Tyberiade ist in drei Bücher gegliedert: die Anspülungen, neue Inseln und die Veränderungen des Flußbettes. Dem Text wurden schematische Zeichnungen beigegeben, deren geometrische Gestaltung Fra Guido da Perugia, Theologe und Geometer, entworfen hatte. Die ersten beiden Bücher sind in zwei Teile untergliedert. Der erste Teil des ersten Buches beginnt mit einer Einführung in die Rechtslage: die expositio verborum legis. Hier werden die Quellen des römischen Rechts ausgeführt, denen Bartolus die rechtliche Behandlung der Anspülungen entnimmt. Im ersten Teil des zweiten Buches wird die praktische Bedeutung dieser Rechtssätze an einer Reihe von Zeichnungen demonstriert. Das dritte Buch beginnt mit »de alveo fluminis varii causa et eventus per solam verborum legislatoris discussionem declarantur«. Grundlage der Abhandlung des Bartolus sind die Digesten. Der Kommentator Bartolus interpretiert das Corpus iuris. Die scholastische Methode beginnt mit einer bestimmten Frage (quaestio) und sucht dann nach den möglichen Antworten, die mit Argumenten in These und Gegenthese begründet werden. Am Ende folgt die solutio, die sich auf Autoritäten stützt. Ebenso wie in der Philosophie stützt man sich unkritisch auf diese Autoritäten. Das gilt bei Bartolus aber nur für den Gesetzestext, während die Glosse frei ist. Daher ist für Bartolus jeder Text unbegrenzt generalisierbar.

Hier sind aus Bartolus' Text drei verschiedene Skizzen ausgewählt, die jene drei Fallgruppen darstellen, die Bartolus beschrieben hat. Im ersten Teil wird beschrieben, auf welche Weise Anschwemmungen zu behandeln sind (de Alluvionibus dividendis modus demonstratur). In der Figur X geht es um die Eigentumsverhältnisse bei einer Anspülung (D XLI, 1, 7, 1). Im zweiten Teil behandelt Bartolus jene Fälle, in denen eine Insel geteilt werden muss (de fluviaticarum Insularum divisione modus edocetur) (D XLI 1, 7, 3). In der Figur wird gezeigt, wie eine neugebildete Insel zwischen drei Anrainern aufgeteilt werden muss. Im dritten Teil werden jene Fälle behandelt, in denen das Flussbett sich ändert (de alveo fluminis varii casus) (D XLI, 1, 7, 5). Hier soll ein Gebiet zwischen drei Anrainern aufgeteilt werden.

4. Die Rezeption des Tractatus

Dieser tractatus fand wachsende Beachtung über seinen Gegenstand hinaus. Er ging in die Verfahrensweise der Gerichte ein, die eine Abbildung durch einen Maler oder Geometer heranzogen, wo eine Besichtigung strittiger geographischer Gegebenheiten nicht möglich schien. Für Karten dieses Typs bürgerte sich in Frankreich der Begriff »Tyberiade« als Kartenbeilage zu einem Schriftsatz ein. Solche Karten begegnen uns in Deutschland in der zweiten Hälfte des 16. Jh. vermehrt in den Akten des Reichskammergerichts. Die Schrift des Bartolus hat Nachfolger gefunden, wie z. B. Aymo, Battista: De fluviorum alluvionobus, deq(e) iis, quae ex alluvione nascuntur commodis, & indommodis : Et quibus acquiratur, amittatur, quoque modo dividatur, quidquid ob fluminum incrementa contigit; in tres libros divisus; opu iurisconsultis omnibus non modo apprime utile, sed etiam valde neccessarium/Baptista Aymo Parmensi auctore – Venetiis: Zillettus, 1581

Literatur

  • Coing, Helmut: Die Anwendung des Corpus Juris in den Consilien des Bartolus, in: Giuffré (Hrg.), L 'Europa e il diritto romano: studi in memoria di Paolo Koschaker/Kunkel, Mailand 1954, S. 71 ff
  • Fuhrmann, M./Liebs, D. (Hrsg.): Exempla juris Romani, 1987, S. 97 f.
  • Hellwig, Fritz: Tyberiade und Augenschein. Zur forensischen Kartographie im 16. Jahrhundert, in: Baur, Jürgen F./Müller-Graff, Peter-Christian/Zuleeg (Hrg.), Europarecht – Energierecht – Wirtschaftsrecht. Festschrift für Bodo Börner zum 70. Geburtstag, Köln/Berlin/Bonn/München, 1992, S. 805 ff.
  • Knütel, Rolf: Von schwimmenden Inseln, wandernden Bäumen, flüchtenden Tieren und verborgenen Schätzen. Zu den Grundlagen einzelner Tatbestände originären Eigentumserwerbs, in: Zimmermann, Reinhard (Hrsg.), Heidelberg 1999, S. 549 ff.
  • Peter in: HRG, Bartolus de Saxoferrato, Bd. 1, Berlin 1971, Sp. 319 f.
  • Saxoferratus, Bartolus de: Tractatus de fluminibus seu Tyberiadis, (Neuaufl. Turin 1964).

Jörg Wolff