Waren die Teilungen Polens 1772/95 Erbteilungen?
1. Prätentionen
Im 17. und 18. Jahrhundert gab es eine juristische Literaturgattung, in der die Prätentionen, die ein Herrscher auf andere Länder hatte oder zu haben meinte, mit Gründen und Gegengründen - und mitunter auch noch Repliken - abgehandelt wurden. Das bekannteste Werk dieser Gattung stammt von Christoph Hermann Schweder (1712) und erschien in bearbeiteter und erweiterter 2. Auflage von Adam Friedrich Glafey 1727. Systematisch werden darin zahlreiche Ansprüche der einzelnen europäischen Länder untereinander untersucht.
2. Ansprüche des Königreichs Polen
So wird für das Königreich Polen ausgeführt, daß die Ansprüche auf Schweden mit dem Aussterben der Vasa 1672 erloschen sind, daß aber Titel auf Livland, Smolensk, Moldau und Walachei (d. i. das heutige Rumänien), Schlesien und (im Falle des Aussterbens der Hohenzollern) auf Preußen bestünden. Umgekehrt besäßen die Nachbarn Ansprüche auf verschiedene Teile der polnisch-litauischen Union, das damals einen sächsischen König aus dem Hause Wettin hatte. Dort überschnitten sich im eigentlichen Polen habsburgische und preußische, in Litauen preußische und russische, in polnisch Reußen schließlich russische und habsburgische Ansprüche. Die zwei bis drei Generationen später vorgenommenen Teilungen, bei denen man sich auch auf anciens droits berief, waren hiermit bereits präfiguriert. Tatsächlich waren (nach dem Aussterben der Herzöge von Pommern 1637 und der schwedischen Vasa 1672) die Häuser Habsburg, Hohenzollern und Gottorp-Romanov - also die drei Teilungsmächte von 1772, 1793 und 1795 sowie das Haus Wettin (Könige von Polen 1697-1763, Herzöge von Warschau 1807-13) die vier überlebenden Tochterstämme des polnisch-litauischen Königshauses der Jagellonen.
3. Die Teilungen Polens als Erbteilungen
Diese überraschende Beobachtung führt zu der schockierenden Folge: Unter den dynastisch-erbrechtlichen Gesichtspunkten des 18. Jahrhunderts waren die Teilungen Polens Erbteilungen. Obwohl Polen seit dem Aussterben der Jagellonen 1572 zu einem Wahlreich geworden war, hatten Kandidaturen für den polnischen Thron seitens der Habsburger (1573, 1575, 1587, 1656), der Hohenzollern (1655, 1764, 1770) und der Nachkommen der Gottorper (1668, 1702) die alten Erbanwartschaften weiterhin lebendig gehalten.
4. Königreich Preußen
Darüber hinaus erscheinen die Anerkennung der Souveränitität Preußens 1657 und dessen Erhebung zum Königtum 1701 unter diesem Gesichtspunkt wie eine ,,erste Teilung Polens", d. h. überspitzt formuliert: Preußen als Königreich entstand als ein polnisches Teil-Königreich. Dabei ist daran zu erinnern, daß bis 1807 als Preußen allein das außerhalb des Heiligen Römischen Reiches gelegene Ost- und Westpreußen galt. Noch 1806 erschien in Berlin eine Landkarte des Königsreichs Preußen, auf der Berlin und Brandenburg gar nicht eingezeichnet waren, sondern nur die Gebiete um Königsberg und Danzig.
Literatur
- Christoph Hermann SCHWEDERS Theatrum historicum Praetensionum et controversium illustrium Oder Historischer Schauplatz der Ansprüche und Streitigkeiten Hoher Potentaten und anderer regierenden Herrschaften in Europa... suppuret und continuiret Von D. Adam Friedrich GLAFEYN, JCto, Leipzig 1727
- Wolf, Armin, Geographie und Jurisprudenz - Historia und Genealogie, Zum »Theatrum praetensionum …« in: in: Jus Commune, Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte, 1987 (14), S. 225-249